Grenzerfahrungen
Herr Weber, Sie haben mit Roland Theis und Karl Terrollion ein Buch zum deutsch-französischen Verhältnis während der Pandemie herausgegeben. Was gab den Anstoß zu diesem Buchprojekt?
In der ersten Covid-19-Welle im Frühjahr 2020 kontaktierte mich Staatssekretär Roland Theis, um zu diskutieren, wie wir als Grenzforscher:innen die Grenzkontrollen und Grenzschließungen bewerten. Im Gespräch entstand dann die Idee, den beobachteten Reflex, Gesundheit über die Sicherung der nationalen Grenzen schützen zu wollen, gemeinsam aufzuarbeiten. Als dann zwischenzeitlich das Reisen wieder möglich war, entwickelten wir im Juli 2020 im Pariser Büro des Saarlandes das Konzept für unser Buch – angetrieben von der Idee, unterschiedlichen Akteuren in der Krise eine Stimme zu geben.
Weit über dreißig Menschen aus Deutschland und Frankreich kommen in Ihrem Buch zu Wort. Warum eine solche Vielfalt der Perspektiven?
Zunächst war es uns wichtig, immer gewisse Pendants zu haben – also deutsche und französische Perspektiven gleichzeitig aufzuzeigen. So sollten Politiker:innen der unterschiedlichen Ebenen – vom Nationalen bis Lokalen – zu Wort kommen. Das war aber nur ein Kriterium. Wir sind weiter gegangen und haben auch Persönlichkeiten aus Gesundheit, Wirtschaft, Kultur, Medien und Wissenschaft in das Buchprojekt eingebunden. Dabei haben wir die Zahl der Autor:innen und Interviewpartner:innen nie gezählt – es hat sich einerseits ein bisschen „verselbstständigt“, andererseits haben wir sorgfältig ausgewählt, um Einblicke in möglichst viele Bereiche, die in der Krise relevant waren, zu bekommen.
Ihr Buch steht für einen kritischen Rückblick auf das Krisenjahr 2020. Was hat Sie bei der Lektüre der Beitragsmanuskripte besonders überrascht?
Noch vor der Lektüre hat mich überrascht, wie groß die Bereitschaft zum Mitmachen bei den meisten der Autor:innen und Interviewpartner:innen war. Gerade für manche Politiker:innen ist das Thema ja ein heikles Feld. Denn das deutsch-französische Verhältnis hat, wie die Medienberichterstattung zeigte, durch die Ereignisse doch gewisse Kratzer abbekommen. Bei der Lektüre der Manuskripte hat mich dann überrascht und durchaus beeindruckt, inwiefern der Schock der Grenzkontrollen und Grenzschließungen schonungslos als Zäsur „seziert“ wurde und gleichzeitig aber auch Wege aufgezeigt werden, wie Krisen künftig besser bewältigt werden können.
Die Texte fokussieren überwiegend auf das Geschehen in der Großregion. Treffen die Beobachtungen auch auf andere Grenzregionen zu?
Viele Entwicklungen, die das Buch herausarbeitet, sind in der Tat auch in der oberrheinisch-elsässische Grenzregion zu beobachten. Das machen aktuelle Veröffentlichungen deutlich, bspw. von Birte Wassenberg. Auch andere Grenzregionen zeigen ähnliche Entwicklungen, wie zum Beispiel an der deutsch-polnischen oder deutsch-dänischen Grenze. Es gibt aber auch Unterschiede, die unter anderem aus historischen Entwicklungen und lokalen Verflechtungen herrühren. Um hierauf genauer zu schauen, bereite ich gerade zusammen mit Dominik Brodowski und Jonas Nesselhauf einen Sammelband zum Thema „Covid-19 und Europa“ vor. Es freut mich sehr, lieber Herr Wille, dass wir Sie dafür auch bereits als Beitragenden gewinnen konnten.
Das Buch schließt mit Überlegungen, wie Krisen in der Großregion künftig besser gemeistert werden können. Wie schätzen Sie die Umsetzung dieser Handlungsvorschläge ein?
Praktisch gedacht, erscheinen mir die Stärkung grenzüberschreitender Einrichtungen, der Ausbau der Gesundheitsversorgung über nationale Grenzen hinweg, die Erleichterungen für Grenzgänger:innen, der Abbau von administrativen Hürden oder auch – der Frankreichstrategie folgend – das Erreichen eines mehrsprachigen Raums mit gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft eigentlich unumgänglich. Zugleich ist mir wohl bewusst, dass diese Aufgaben nicht einfach umzusetzen sind und Zeit brauchen. Als Grenzraumforscher ist es mir ein Anliegen, mich gemeinsam mit Kolleg:innen auf künftige Erfordernisse zu konzentrieren und so das Scheinwerferlicht darauf zu richten, was zu tun bleibt – kurz gesagt: die Verbindung von Theorie und Anwendung weiterzuentwickeln und zu stärken. Für dieses Anliegen bietet das UniGR-Center for Border Studies als interregionales Kompetenzzentrum einen perfekten Rahmen.
Biographische Notiz
Florian Weber (Jun.-Prof. Dr.) studierte Humangeographie an der Universität Mainz, promovierte an der Universität Erlangen-Nürnberg zu einem Vergleich deutsch-französischer Stadtpolitiken und wurde an der Universität Tübingen zu Konflikten um die Energiewende habilitiert. Seit 2019 forscht und lehrt er in der Fachrichtung Gesellschaftswissenschaftliche Europaforschung an der Universität des Saarlandes. Er ist Mitglied im UniGR-Center for Border Studies, in dem grenzüberschreitende Fragestellungen gemeinsam mit Partner:innen aus der Großregion bearbeitet werden.
Kontakt
E-Mail florian.weber[at]uni-saarland.de
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