Vergrenzungen und Grenz(raum)forschung
Erstmalig seit der Nationenbildung wurden im Jahr 2020 die Grenzen von so vielen Ländern gleichzeitig geschlossen. Dieses Ereignis kann als (vorläufiger) Höhepunkt einer ganzen Reihe an territorialen (Selbst-)Versicherheitlichungen betrachtet werden, welche die in den 1990er Jahren aufgekommene Idee der „Borderless World“ (Ohmae 1990) erheblich in Zweifel zieht. Denn während damals unter dem Eindruck des sich ausbreitenden Internets, Falls des Eisernen Vorhangs, der wachsenden Mobilität oder globalen Klima- und Umweltfragen territoriale Grenzen scheinbar an Bedeutungen verloren, ist seit einigen Jahrzehnten eine Renaissance von Grenzen augenfällig. Sie geht vor allem auf jüngere gesellschaftliche und politische Entwicklungen zurück, wie der plötzliche Anstieg terroristischer Anschläge in den 2000er Jahren oder die immer deutlicher werdende Krise des Migrationsmanagements durch die westlichen Staaten. Sie haben nicht nur die forcierte Digitalisierung der Grenzregime, temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum oder die Abschottung der EU-Außengrenzen bewirkt, sondern auch zu einer Vervielfältigung von Grenzanlagen geführt (Vallet 2019; Benedicto et al. 2020).
Zeitalter der Vergrenzungen
Diese Entwicklungen legen nahe, dass wir in ein Zeitalter der Vergrenzungen eingetreten sind. Auch die Grenz(raum)forschung reagiert darauf und arbeitet mit Konzepten, die Grenzen in gesellschaftlichen Prozessen aufspüren und somit das Augenmerk zunehmend umlenken von den territorialen Rändern hin zu jenen gesellschaftlichen ‚Schauplätzen‘, an denen Grenzen als Einsetzungen, Stabilisierungen, Infragestellungen oder Verschiebungen virulent (gemacht) werden (Wille 2021). Bei der Beschäftigung mit solchen ‚Schauplätzen‘ der Grenz(de)stabilisierung sind zwei Tendenzen auszumachen: Während die Grenzforschung unter dem Eindruck der Fluchtbewegungen und Migrationsforschung vor allem auf die Mobilität von Grenzen und ihre Einsetzung, Stabilisierung sowie Unterwanderung fokussiert, interessiert sich die Grenzraumforschung – angeleitet vom Ideal eines Europa ohne Grenzen – besonders für das Geschehen an den territorialen Rändern innerhalb der EU und für die Destabilisierung ihrer Trennwirkungen. Diese Orientierung ist spätestens seit den 1980er Jahren festzustellen, in denen rechtliche Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wichtiger wurden und sich das Verständnis der EU-Binnengrenzen von sogenannten ‚trennenden Narben der Geschichte‘ hin zu ‚verbindenden Nahtstellen‘ wandelte (Courlet 1988). Diese Auffassung von Grenzen als permeable Brücken festigte sich in den 1990er Jahren im fortschreitenden Integrationsprozess, in dem Grenzregionen fortan eine wichtige Rolle spielten (Ruge 2003). Die politische Bedeutung von Grenzregionen, die auch im Zuge der Erweiterungswellen fortbesteht, schlägt sich in der Grenzraumforschung bis heute nieder. Sie ist eng verflochten mit dem politischen Projekt der europäischen Integration, was den Fokus auf Destabilisierungsprozesse, auf die Permeabilität von Grenzen und die normative Orientierung der zahlreichen (und oft unverbundenen) Untersuchungen einzelner territorialer EU-Binnenangrenzungen erklärt (Wille et al. 2019).
Vergrenzungen in Grenzregionen
Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu so, als sei die europäische Grenzraumforschung von globalen Entwicklungen, die ein Zeitalter der Vergrenzungen eingeläutet haben, überholt worden. Dieser Eindruck erhärtet sich im Lichte der vertrauten Leitidee eines Europa ohne Grenzen, die mit Brexit, wachsender Euroskepsis und einem immer kostspieligeren EU-Grenzregime erheblich an Strahlkraft eingebüßt hat (Klatt 2020; Bürkner 2020; Yndigegn 2020). Sie wurde im Jahr 2015 außerdem erstmals frappierend in Zweifel gezogen, als einige EU-Mitgliedstaaten unter dem Eindruck der Fluchtbewegungen und Terroranschläge in Paris und Brüssel wieder Grenzkontrollen einführten. Fünf Jahre später werden die EU-Binnengrenzen erneut reaktiviert, allerdings deutlich drastischer, flächendeckender und vor einer neuen Kulisse der (Un-)Sicherheit. Denn während im Jahr 2015 Sicherheit unter Verweis auf das Fremde als „emotionalen Beheimatung“ (Schwell 2021) hergestellt wurde, werden die Versicherheitlichungen des Eigenen im Jahr 2020 über das äußere Virus legitimiert. Angesprochen ist damit das bis dahin beispiellose „Covidfencing“, womit Medeiros et al. (2020) die Grenzschließungen im Zuge der SARS-CoV-2-Epidemie auf den Begriff bringen. Von den EU-Mitgliedern schloss Slowenien am 11. März als erstes seine Grenze, am 14. März folgte Dänemark und bis Ende des Monats führten alle weiteren EU-Staaten – mit Ausnahme von Luxemburg, Irland, Niederlande und Schweden – einschneidende Einreisebeschränkungen an ihren Grenzen ein. Während die Chronologie der Grenzschließungen inzwischen gut dokumentiert ist (z. B. Reitel et al. 2020; Carrera et al. 2020), hat die Aufarbeitung der Covidfencing-Prozesse im Schengen-Raum erst begonnen. Dazu zählen die Vorschläge für ein verbessertes grenzüberschreitendes Krisenmanagement (Coatleven et al. 2020), für Strategien zur gemeinsamen Bewältigung der sozioökonomischen Covid-19-Auswirkungen (Medeiros et al. 2020) oder kritische Betrachtungen des hastigen Covidfencing hinsichtlich seiner Effizienz zur Eindämmung des Virus (Eckardt et al. 2020).
Ein bislang noch vernachlässigter Aspekt der Covidfencing-Aufarbeitung betrifft den temporär vergrenzten Alltag der Einwohner*innen von Grenzregionen und seine mittel- bis langfristigen Auswirkungen. Denn abgesehen von einigen episodischen Einblicken (Wille et al. 2020; Ulrich et al. 2020; BIG-Review 2020) in das Erleben der Grenzschließungen liegen noch keine umfassenden Untersuchungen der grenzregionalen Lebenswirklichkeiten als ‚Schauplätze‘ von Ver- bzw. Entgrenzungen vor. Die Brisanz der lebensweltlichen Dimension des Coronafencing hat sich in der Großregion SaarLorLux besonders an der deutsch-französischen Grenze im April und an der deutsch-luxemburgischen Grenze im September im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Arbeits- und Freizeitpendlern gezeigt. Damit angesprochen sind die längst überkommen geglaubten Ressentiments gegenüber den ‚vertrauten Fremden‘ jenseits der Grenze, deren Artikulation die Presse zugespitzt als „Corona-Rassismus“ (Drobinski 2020) bezeichnete. Vergrenzungen im Zuge der Pandemie wurden hier also nicht nur über strikt filternde Kontrollen manifest, sondern genauso kann der beobachtete Rückzug ins Eigene – als Wechselwirkung der Abgrenzung vom Anderen – als ‚Schauplatz‘ des Coronafencing qualifiziert werden. Welche genaue Verbreitung solche Mechanismen der (Selbst-)Versicherheitlichung in europäischen Grenzregionen fanden, darüber liegen keine Informationen vor. In der Großregion SaarLorLux jedenfalls wurde das lebensweltliche Coronafencing auf politischem Parkett scharf verurteilt und der grenzüberschreitende Schulterschluss (Hans et al. 2020) zur Entkräftung der beobachteten „VerAnderungen“ (Reuter 2002) medienwirksam demonstriert.
Grenzraumforschung im Zeitalter der Vergrenzungen
Die angerissenen Logiken von Vergrenzungen, die Eindeutigkeiten und Sicherheiten über äußere Referenzsubjekte erzeugen (Terroristen, Virus, verAnderte Nachbarn), illustrieren die Dynamik und Komplexität von Grenzziehungsprozessen, wie sie bislang in erster Linie von der Grenzforschung thematisiert werden. Ebenso vor allem in der Grenzforschung zu verorten ist das Umkämpftsein von Grenzen und damit die Frage, wer sich in welcher Weise mit welchen Interessen und Effekten an Ver- und Entgrenzungsprozessen beteiligen kann und beteiligt (Parker et al. 2012). Besonders im Fokus stehen dabei zivilgesellschaftliche Akteure mit ihren aktivistischen bzw. artivistischen Aktionen als ‚Schauplätze‘ der politischen Intervention (Giudice et al. 2015; Amilhat Szary 2012). In Reaktion auf die geschlossenen Schengen-Grenzen waren solche Interventionen im Jahr 2020 auch in europäischen Grenzregionen auszumachen (Wille 2020), die mit zivilgesellschaftlichen Anfechtungen von Grenzen in der Regel kaum Erfahrungen haben.
Diese Aktionen werden in der Grenzraumforschung bislang weder im Kontext von Covidfencing-Prozessen noch anderweitig berücksichtigt. Die europäische Grenzraumforschung ist aber gut beraten, sich angesichts der skizzierten und vermutlich zu erwartenden Entwicklungen fortan stärker auch mit den Prozessen der Einsetzung und Stabilisierung von Grenzen, aber genauso mit ihren Unterwanderungen und Anfechtungen, zu beschäftigen, ist das Zeitalter der Vergrenzungen doch nun auch bis zum Nukleus der Europäischen Integration – in die Grenzregionen – vorgedrungen. Eine solche Erweiterung um den Aspekt der Durabilität von Grenzen bedeutet für die europäische Grenzraumforschung allerdings nicht, ihren normativen Anspruch fallen lassen zu müssen oder sich vom politischen Projekt der Integration und der mit ihm verbundenen Leitideen zu emanzipieren. Vielmehr sollte eine zeitgemäße Perspektivweitung vollzogen werden, die ‚Schauplätze‘ und Dynamiken der Grenz(de)stabilisierung in Grenzregionen adäquat erfasst und darüber nunmehr auch Vergrenzungsprozesse an den EU-Binnengrenzen besser verstehbar macht. Inwiefern sich die europäische Grenzraumforschung dabei von der interdisziplinären Grenzforschung inspirieren lassen kann und lässt, wird die Zukunft zeigen.
Amilhat Szary, A.-L. (2012). Walls and Border Art: The Politics of Art Display. Journal of Borderlands Studies 27: 2, 213-228. doi: 10.1080/08865655.2012.687216.
Benedicto, R. A., Akkerman, M. & Brunet, P. (2020). A walled world towards a global apartheid. Centre Delàs Report 46. Barcelona: Centre Delàs d’Estudis per la Pau.
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