Zugänge zur Grenze zwischen Diffundierung und Fortifizierung

Grenzen bestimmen spätestens seit den 2010er Jahren wieder die politische Agenda und stehen verstärkt im Zentrum gesellschaftlicher Debatten. Das Wiedererstarken von Grenzen manifestiert sich allerdings auf den ersten Blick in einer paradoxen Weise. Denn während wieder Grenzmauern gebaut, Zäune eingepflockt und Grenzanlagen als territoriale Markierungen ausgebaut werden, finden Regulations- und Kontrollpraktiken zunehmend transterritorial zersplittert und unsichtbar statt. Diese Entwicklungen untergraben und beschwören zugleich die verbreitete Idee, Grenzen seien linienhafte Markierungen des territorialen Rands. Vor allem aber verweisen sie auf die Notwendigkeit, den vielerorts noch unhinterfragten Grenzbegriff zu überdenken. Dafür werden im Folgenden ausgewählte Zugänge überblicksartig vorgestellt.

Grenzen als individualisierte Verkörperungen

Besonders die Technologisierung der Grenze, die auch als Smartification umschrieben wird, hat die Grenze in ihrer Sichtbarkeit und Materialität erheblich verändert. Sogenannte smart borders stehen für Überwachungsapparate via Satelliten, Drohnen, Radarsysteme, für das Erfassen und Speichern von biometrischen Daten, für Big-Data-Automatisierungen oder algorithmische Projektionen von (Flucht-)Bewegungen. Dabei gehen menschliche Körper fortlaufend Allianzen mit technischen Apparaturen ein und werden zu Trägern der Grenze (Amoore, 2006). Die technologiebasierte Verkörperung der Grenze, bei der der menschliche Körper als Checkpoint fungiert (Grosser/Oberprantacher 2021: 392), gilt als zentrales Merkmal der Grenze zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Schulze Wessel 2016: 52). Steffen Mau (2021: 156) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der traditionellen territorialen Grenze als ‚Personengrenze‘, welche die Bewegung mehr oder weniger aller Personen reguliere und der ‚individualisierten Grenze‘, die nach Grenzpersonen unterscheide: „Mit dem Wachstum an Informationen, biometrischer Erkennung […] soll gewährleistet werden, dass die als riskant oder unerwünscht klassifizierten [Grenz-]Personen […] herausgefiltert werden, aber dass dadurch der Durchstrom aller anderen […] nicht ins Stocken gerät.“ (ebd.: 156f.)

Grenzen als ubiquitäre Pop-up-Phänomene

Aus diesen Entwicklungen resultiert eine Diffundierung der Grenze, da sie nicht länger exklusiv am territorialen Rand verortet werden kann. Sie diffundiert im Raum und gibt sich dort zu erkennen, wo Regulations- und Kontrollpraktiken stattfinden: „Die an individuelle Körper und digitale Geräte geheftete biometrische und elektronisch vernetzte Grenze füllt die Gesamtheit staatlicher Räume aus und folgt Subjekten wohin auch immer sie sich bewegen.“ (Pötzsch 2021: 289) Wie ein Wachhund in technologischer Gestalt also zieht die Grenze transterritorial umher und schlägt unvermittelt an, sobald sich Grenzpersonen nähern: sie lauert an Flughäfen, Bahnhöfen oder anderen Transitorten auf, spürt in Wüsten oder auf dem Meer auf oder beobachtet aufmerksam die vorausberechneten Fluchtrouten. Als unberechenbares Pop-up-Phänomen ist die Grenze räumlich mobil und wird ubiquitär (Balibar 2002: 84). Ihre Allgegenwärtigkeit ist aber nur für jene relevant, die über (durchaus changierende) „Sortierlogiken“ (Mau 2021: 15) zu Grenzpersonen gemacht und so in die Unhintergehbarkeit der Grenze verbracht werden. Sie verharren in einem „allgegenwärtige[n] Zustand potenzieller Verfolgung“ (Pötzsch 2021: 289), den die Geographin Clémence Lehec mit dem Begriff „frontière de Damoclès“ (2020: 185) treffend fasst. Während Grenzpersonen also überall mit der Grenze rechnen müssen, die sich jederzeit als Kontroll- und Selektionsapparat in Stellung bringen kann, ist sie für andere kaum sichtbar und relevant.

Grenzen als Signaturen einer „Walled World“

Neben der schwindenden Sichtbarkeit und differenzierten Ubiquität der Grenze ist eine weitere Entwicklung zu beobachten, die auf die Multiplizierung von sichtbaren fortifizierten Grenzen entlang territorialer Ränder hindeutet (Gülzau et al. 2021; Vallet 2021). Der Trend der border fortification hat sich vor allem in den letzten Jahren intensiviert, so dass heute weltweit ein Fünftel der Landesgrenzen mit Zäunen, Mauern oder Gräben ausgerüstet sind (Mau et al. 2021: 149). Benedicto et al. (2020) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Walled World“, wenn sie den Bau von Grenzmauern in den letzten 30 Jahren bilanzieren: zwischen 1989 und 2018 sei ihre Zahl weltweit von sechs auf 63 gestiegen, von denen allein 14 im Jahr 2015 zum Höhepunkt der 2010er Fluchtbewegungen errichtet wurden. In Europa hat die Fortifizierung der Schengen-Binnengrenzen im Jahr 2015 eingesetzt, als einige EU-Mitgliedstaaten infolge von Fluchtbewegungen und Terroranschlägen wieder Kontrollen einführten und zusätzliche Grenzanlagen errichteten. Fünf Jahre später wiederholte sich dieser Vorgang deutlich drastischer mit dem bis dahin beispiellosen „covidfencing“ (Medeiros et al. 2021) im Zuge der Covid-19-Pandemie.

Grenzen als Sehnsüchte kollektiver (R)Einheit

Mauern, Zäune und andere Fortifizierungen des territorialen Ein- und Ausschlusses bleiben offenbar „widerständige Institutionen“ (Mau et al. 2021: 150), obgleich sie stets permeabel sind und sich für tatsächliche Schließungsprozesse kaum effizient erweisen. Dieser Widerspruch wird in der verbreiteten „populist glorification of borders” (Van Houtum 2021: 40) ausgeblendet zugunsten von leicht eingängigen Argumenten, die gegen Einwanderung und Kriminalität oder für Sicherheit und den Schutz von Wohlstand stehen (Korte 2021: 52; Vallet 2021: 11). Ein prominentes Beispiel dafür ist die Mauer an der U.S.-mexikanischen Grenze, die Massimiliano Demata (2023) diskursanalytisch als ein nationenkonstitutives Othering entlarvt. Damit verweist der Linguist geradezu exemplarisch auf die symbolische Funktion von border fortifications, die vor allem auf Selbstvergewisserungen und deren Versicherheitlichungen basieren. Henk van Houtum fasst solche selbstkonstitutiven Prozesse, die sich in Grenzmauern materialisieren, mit dem Konzept der „id/entity”, das den Zusammenhang von territorialer und kollektiver (R)Einheit anzeigen soll: „[W]e have seen an increasing desire to further strengthen the border in the name of protection and purification of a self-declared id/entity.” (2021: 34) In solchen Prozessen werden in der Regel bestimmten Personengruppen, die zu den Anderen gemacht werden sollen, Risiken zugeschrieben, die einen vermeintlichen Schutz des Eigenen durch Mauern und Zäune legitimieren. Border fortifications zielen demnach nicht exklusiv auf die sichtbaren Grenzmaterialitäten. Vielmehr sind sie als Materialisierungen von kulturellen Prozessen zu verstehen, die angetrieben von einer „border anxiety“ (Almond 2016) risikobehaftete Grenzpersonen als Dispositive der Selbstvergewisserung hervorbringen.

Grenzen als Materialisierungen kultureller Ordnungsprozesse

Die Multiplizierung von fortifizierten Grenzen an den territorialen Rändern erschließt sich also über kulturelle Prozesse, die für das dynamische und instrumentalisierte Wechselspiel identitärer Kategorien stehen. Solche Prozesse folgen sorgfältig inszenierten Risikopolitiken, die nicht nur bestimmte Personengruppen stigmatisieren, sondern mit Hilfe von Bedrohungsszenarien stets das Sicherheitsargument mobilisieren. Dabei erweisen sich die (bedrohlichen) Unsicherheiten und (existentiellen) Risiken genauso variabel wie jene Gruppen, die ausgeschlossen bleiben sollen bzw. zu Grenzpersonen gemacht werden: „Es gibt eine fortwährend aktualisierte Sicherheitsrhetorik, die die Grenze immer wieder umcodiert und gegen äußere Risiken abwehrfähig machen soll.“ (Mau 2021: 158) Damit ist auch für die fortifizierten Grenzen am territorialen Rand festzuhalten, dass es sich hier – jenseits der ohnehin regulativen Wirksamkeit von Grenzbefestigungen – um unberechenbare und selektive Filterprozesse handelt. Denn während die schwindende Wahrnehmbarkeit und differenzierte Ubiquität der Grenze über Allianzen aus spezifischen Körpern und technischen Apparaturen erklärt werden kann, werden im Zuge der border fortifications spezifische Personengruppen für den Einsatz stationärer Grenzmaterialitäten aufgerufen. Beide Entwicklungen beruhen auf Klassifizierungspraktiken, die als kulturelle Ordnungsprozesse nicht nur veränderbar sind, sondern auch Ungleichheiten erzeugen.

Grenzen als Produkte und Produzentinnen von Ungleichheit

Das Prinzip der Grenze basiert auf Unterscheidungen, die sozial und räumlich wirksame kulturelle Ordnungen einsetzen oder (de-)stabilisieren. Sie manifestieren sich in Klassifizierungspraktiken bzw. digitalen Kodierungen von Menschen und wurden selten so umfänglich durchgesetzt, wie es die Technologisierung heute erlaubt oder wie es als erforderlich erklärt wird, um ‚unerwünschte‘ Grenzpersonen auszuschließen. Solche Ordnungsprozesse sind jedoch nicht für alle Menschen in gleicher Weise bedeutsam. Darauf hat Etienne Balibar (2002: 81) schon frühzeitig mit seiner Feststellung „[Borders] do not have the same meaning for everyone” hingewiesen und der Grenze eine „polysemic nature“ (ebd.) zugeschrieben. Die Philosophen Florian Grosser und Andreas Oberprantacher (2021: 394) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Plastizität der Manifestationen von Grenzen“, die eine „Ungleichverteilung von (Im-)Mobilität“ bewirke. Die Plastizität, die für die Selektivität des Prinzips der Grenze steht, umschreiben Sandro Mezzadra und Brett Neilson (2013: 175) wiederum mit einem variablen „hardening and softening [of the border]“. Damit wollen beide Autoren die Ungleichheiten betonen, die über die selektiven Ordnungslogiken von Grenzen (re-)produziert werden. Grenzen sind demnach gewisse Valenzen oder Relevanzen eingeschrieben, die sich mit Blick auf unterschiedliche (Grenz-)Personen unterscheiden und in entsprechend spezifischen Wirksamkeiten zum Ausdruck kommen. Grenzen können daher als multivalent charakterisiert werden (Wille et al. 2023).

Literatur

Almond, B. (2016) ‘Border Anxiety: Culture, Identity and Belonging’, Philosophy, Vol. 91 No. 4, S.1–19.

Amoore, L. (2006) ‘Biometric borders: Governing mobilities in the war on terror’, Political Geography,  Vol. 25 No. 3, S.336–351.

Balibar, E. (2002) Politics and the Other Scene, Verso, London/New York.

Benedicto, R. A., Akkerman, M. und Brunet, P. (2020) A walled world towards a global apartheid, Centre Delàs Report 46, Centre Delàs d’Estudis per la Pau, Barcelona.

Demata, M. (2023) Discourses of Borders and the Nation in the USA. A Discourse-Historical Analysis, Routledge, London/New York.

Grosser, F. und Oberprantacher, A. (2021) ‚Einleitung: Pandemie der Grenze‘, Zeitschrift für Praktische Philosophie, Vol. 8 No. 1, S.385–402.

Gülzau, F., Mau, S. und Korte, K. (2021) ‘Borders as Places of Control. Fixing, Shifting and Reinventing State Borders. An Introduction’, Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Vol. 46 No. 3, S.7–22.

Korte, K. (2021) ‘Filtering or Blocking Mobility? Inequalities, Marginalization, and Power Relations at Fortified Borders’, Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Vol. 46 No. 3, S.49–77.

Lehec, C. (2020) Filmer les graffitis aux frontières de Dheisheh. Sur les murs de Palestine, MetisPresses, Genève.

Medeiros, E., Ramírez, M., Ocskay, G. und Peyrony, J. (2021) ‘Covidfencing effects on cross-border deterritorialism: the case of Europe’, European Planning Studies, Vol 29 No 5, S.962–982.

Mau, S. (2021) Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, Beck, München.

Mau, S., Gülzau, F., Korte, K. (2021) ‚Grenzen erkunden. Grenzinfrastrukturen und die Rolle fortifizierter Grenzen im globalen Kontext’. in Löw, M., Sayman, V., Schwerer, J. und Wolf, H. (Hg.), Am Ende der Globalisierung. Über die Refiguration von Räumen. transcript, Bielefeld, S.129–153.

Mezzadra, S. und Neilson, B. (2013) Border as Method, or, the Multiplication of Labor, Duke University Press, Durham.

Pötzsch, H. (2021) ‘Grenzen und Technologie’, in Gerst, D., Klessmann, M. und Krämer, H. (Hg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium (Border Studies. Cultures, Spaces, Orders), Nomos, Baden-Baden, S.283–296.

Schulze Wessel, J. (2016) ‘On Border Subjects: Rethinking the Figure of the Refugee and the Undocumented Migrant’, Constellations, Vol. 23 No. 1, S. 46–57.

Vallet, É. (2021) ‘State of Border Walls in a Globalized World’, in Vallet, É. und Bissonnette, A. (Hg.), Borders and Border Walls. In-Security, Symbolism, Vulnerabilities, Routledge, London/New York, S.7–24.

Van Houtum, H. (2021) ‘Beyond ‚borderism‘: overcoming discriminative b/ordering and othering’, Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie, Vol. 112 No. 1, S.34–43.

Wille, C.; Weber, F.; Fellner, A. (Hg.) (2023) ‘B/Orders are (not) everywhere (for everyone): On the multivalence of borders in a flee(t)ing Europe | Zur Multivalenz von Grenzen in einem flüchtigen Europa’, Borders in Perspective, Vol. 8.

Wille, Christian (2024): Reflections on Complexity-oriented Border Research. BorderObs, UniGR-Center for Border Studies. mehr Info
Wille, Christian (2023): Approaches to the Border between Diffusion and Fortification. Blog BorderObs, UniGR-Center for Border Studies. mehr Info
Wille/Weber/Fellner (Hg.) (2023): B/Orders are (not) everywhere (for everyone): On the multivalence of borders in a flee(t)ing Europe. Borders in Perspective 8. mehr Info
Funk/Wille (2022): Stresstest für die Jugendmobilität im Grenzraum. Grenzüberschreitende Berufsausbildung und Studium während der Pandemie – Erfahrungen und Perspektiven. Panorama. Deutsch-französische und europäische Analysen 2. mehr Info